Geplant ist, dass FCAS ab dem Jahr 2040 von den Nationen in den Einsatz übernommen wird. Vor diesem Hintergrund haben wir den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Dr. Bruno Kahl, um eine strategische Bedrohungsanalyse für 2040 gebeten. Der Gastbeitrag basiert auf dem Vortrag, den Dr. Kahl am 02. Oktober im Rahmen der Sitzung der „AG Technikverantwortung“ gehalten hat.
Eine strategische Bedrohungsanalyse für 2040
Wir können heute langfristige Prognosen für einzelne Weltregionen und Themenbereiche treffen, aber nicht mit letzter Gewissheit vorhersagen, welche dieser Entwicklungen letztlich geopolitisch ausschlaggebend sein werden. Nichtsdestotrotz können wir einige Megatrends benennen, die das sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands beeinflussen und dadurch die Anforderungen an unsere Sicherheitsarchitektur – und damit auch an unsere Streitkräfte – verändern werden.
Als ein wesentlicher Megatrend zeichnet sich schon länger ab, dass die Welt auch in den nächsten 20 Jahren nicht geordneter und übersichtlicher, sondern noch viel diverser und damit auch noch unsicherer werden wird. Weitere Megatrends sind der technologische Fortschritt, eine Verschiebung der Wirtschaftskraft zwischen Europa, China, Indien und den USA, die demografische Entwicklung, Klimawandel und Ressourcenknappheit, Migrationsbewegungen sowie eine – bei allen isolationistischen und nationalistischen Bewegungen auf der ganzen Welt – voranschreitende Globalisierung.
Alle diese Megatrends haben konkrete Auswirkungen auf das zukünftige militärische Operationsumfeld sowie auf den Charakter militärischer Konflikte. Die Akteure des 21. Jahrhunderts sind schneller, komplexer und volatiler. Das Gefechtsfeld wird durch eine Vielzahl staatlicher, nicht-staatlicher sowie quasi-staatlicher Akteure beeinflusst. Dies erschwert die Freund-Feind-Erkennung.
Konflikte werden zukünftig auch in anderen, neuen Formen ausgetragen. Dies gilt sowohl mit Blick auf die vielfältigen Arten hybrider Bedrohungen als auch für Konflikte, die durch Ressourcenknappheit oder den Klimawandel getriggert sind. Wir erleben eine „Vergesellschaftung“ des Krieges: Militärische Operationen werden sich stärker auf das urbane Umfeld konzentrieren und erfassen damit weite Bevölkerungsteile.
Insgesamt wird der Cyber- und Informationsraum weiter an Bedeutung gewinnen – vor allem wenn es um unklare Konfliktdynamiken und unübersichtliche Bedrohungslagen geht. Soziale Medien und Fake News werden als Wirkmittel immer stärker zur Geltung kommen und Kriege um Narrative entbrennen. Digitale Asymmetrien zwischen verschiedenen Playern sowie eine insgesamt erhöhte Mobilität vereinfachen Proliferation wirkmächtiger Technologien in einem gefährlichen Maße.
Digitalisierung, Automatisierung und technologische Innovationen lassen ein „gläsernes Gefechtsfeld“ entstehen, das im Gegensatz zum früheren, undurchsichtigen „Nebel des Krieges“ die aktuelle Lage aufklärt – und damit wertvolle Informationen für eigene taktische Entscheidungen liefert. Alles in allem verlaufen Konflikte der Zukunft hybrider, vernetzter sowie räumlich und zeitlich entgrenzt.
Wir müssen die künftigen Entwicklungslinien anderer Streitkräfte kennen, um uns adäquat wappnen zu können – wobei hier beispielhaft Russland und China betrachtet werden sollen.
Aus russischer Sicht konkurrieren in der heutigen multipolaren Welt die Großmächte eher nicht in direkten militärischen Auseinandersetzungen, sondern in einer steigenden Zahl lokaler und regionaler Konflikte. Dass solche Konflikte militärisch eskalieren, ist derzeit wahrscheinlicher als ein Krieg im großen Maßstab zwischen den Großmächten.
Russland investiert in neue Waffen, Technologien und Taktiken, die es – wie in Syrien – auch im Einsatz erprobt, um seine Abschreckung glaubhafter zu machen. Dabei gewinnen die Dimensionen Luft und Weltraum in den russischen Streitkräften zunehmend an Bedeutung.
Hybride und zumeist verdeckte Einflussnahmen von russischer Seite gewinnen immer mehr an Bedeutung, während moralisch-ethische und rechtliche Überlegungen hinter eine harte Realpolitik unter Einsatz aller verfügbaren Mittel zurücktreten. Dabei bleibt das russische System auch unabhängig von der Person Putins strukturell ähnlich: Die Sicherheitsbehörden sowie das Militär bilden weiterhin den Kern der Staatsmacht. Angesichts dieser Kontinuität bleibt der Konflikt mit dem Westen systembestimmend.
Auch die multipolare Weltordnung kann Russland zum Vorteil gereichen. Eine geopolitische Konzentration der USA auf Asien bietet Moskau Gelegenheit und Chance, wieder verstärkten Einfluss auf Europa auszuüben. Zugleich beobachtet Russland aber den Aufstieg seines östlichen Nachbarn China mit großer Aufmerksamkeit. Aus wehrtechnischer Sicht wird den russischen Waffensystemen bis 2040 weiterhin ein Technologievorsprung gegenüber China vorhergesagt.
Der sicherheitspolitische und militärische Fokus Beijings wiederum dürfte bis 2040 regional bleiben. Souveränitäts- und Territorialkonflikte direkt an Chinas Peripherie sowie die Rivalität mit den USA in der asiatisch-pazifischen Region bleiben dabei die bestimmenden Einflussgrößen.
Die Weltordnung bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts wird entscheidend vom weiteren Aufstieg Chinas unter Führung der Kommunistischen Partei geprägt sein. Nach dem erklärten Willen des Staats- und Parteichefs Xi Jinping soll China bis zum hundertsten Geburtstag der Volksrepublik 2049 die Weltspitze auf Augenhöhe mit den USA erreichen. Für Beijings außenpolitische Ambitionen und seine Sicherheitspolitik bleibt Washington somit der Maßstab des eigenen Anspruchs.
Die Militärdoktrin der Volksrepublik zielt darauf ab, die Position der USA als dominierende Militärmacht im asiatisch-pazifischen Raum mittelfristig einzudämmen und langfristig abzulösen. In diesem Rahmen soll die Volksbefreiungsarmee schrittweise reformiert und bis spätestens 2049 fähig sein, hochintensive regionale Kriege im Informationszeitalter zu gewinnen.
Komplexe chinesische Waffensysteme wie Kampfflugzeuge oder bodengebundene Luftverteidigungssysteme werden im Jahr 2040 über Waffenexporte möglicherweise auch in der Nachbarschaft der NATO anzutreffen sein.
Es ist in diesem Kontext für Deutschland wie auch für unsere europäischen und transatlantischen Verbündeten von sicherheits- und verteidigungspolitischem Interesse zu wissen, wie sich russische und chinesische Rüstungsexporte in unsere europäische oder auch afrikanische Nachbarschaft in die internationale Bedrohungslage einfügen könnten.
Insgesamt spielt aus deutscher Sicht im Allgemeinen und der Perspektive von Bundeswehr und BND im Speziellen auch eine große Rolle, wie wir unsere Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz noch besser vor feindlichen Gefahren schützen können.
Nicht zuletzt auf Grundlage der nachrichtendienstlichen Erkenntnisse des BND zur strategischen Bedrohungsanalyse für die kommenden Jahrzehnte müssen sowohl die Politik ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen treffen als auch die europäische Industrie Lösungen mit adäquater Technik und Ausrüstung entwickeln.